Hinterzimmer, Netzwerke, stille Deals: Die Wahrheitüber Aufsichtsratsbesetzungen

Gleichzeitig nimmt der Druck auf die Gremien zu: Digitalisierung, KI, geopolitische Risiken, Nachhaltigkeit, verschärfte Regulierung – der Katalog an Anforderungen wächst schneller als viele Aufsichtsräte sich erneuern. Eine aktuelle Studie des Arbeitskreises deutscher Aufsichtsrat (AdAR) verweist auf neue Kompetenzfelder wie ESG, Digitalisierung und Geopolitik, die in den Gremien gezielt aufgebautwerden müssten.(adar.info)
Siehe Abbildung 1: Welche Themen bestimmen im Moment die Agenda Ihres Aufsichtsrats?
Zwischen notwendiger Vertraulichkeit undüberholter „Vetternwirtschaft“ ist ein Streit entbrannt: Braucht es mehr Transparenz bei der Besetzung – oder würde ein offener Markt die Arbeit der Aufsichtsräte nur politisieren?
Ein Markt, der keiner sein will – aber alle spielen mit.
Die Zahlen zeigen die strukturelle Schieflage: In Deutschland gibt es zwar zehntausende Aufsichtsratsmandate– doch die „wesentlichen Mandate“ großer, umsatzstarker Gesellschaften sind laut einer vielzitierten Analyse auf einen Kreis von nur rund 200 bis 400 Personen konzentriert.(Jura HHU) Persönliche Bekanntschaft und Zugehörigkeit zu bestimmten Netzwerken spielen bei der Vergabe eine zentrale Rolle.
In der Praxis funktioniert der Markt so: Man kennt sich aus früheren Stationen, aus Verbänden, von Konferenzen oder aus dem eigenen Aktionärskreis. Frei werdende Mandate werden im vertrauten Umfeld besprochen, Namen zirkulieren informell – häufig, bevor überhaupt diskutiert wird, welche fachlichen oder persönlichen Kompetenzen ein zukünftiges Gremienmitglied eigentlich mitbringen sollte.
Öffentliche Ausschreibungen sind die Ausnahme. Auch Board-Berater Friedrich Vogel berichtet, dass viele Mandate „unter der Oberfläche“ vergeben werden – diskret, schnell, im engen Kreis. Dass dabei immer wieder dieselben Persönlichkeiten auf mehreren Mandatslisten auftauchen,ist eher Regel als Zufall.
Gute Gründe für die verdeckte Suche – aber nicht um jeden Preis
Befürworter des Status quo verweisen auf legitime Gründe für Diskretion:
Aufsichtsratsbesetzungen betreffen häufig sensible strategische Fragen – etwa zur künftigen Ausrichtung des Unternehmens oder zu Konflikten auf Vorstandsebene. Eine öffentliche Kandidatensuche könnte Spekulationen über interne Spannungen anheizen oder den Aktienkurs beeinflussen.(dcgk.de)
Verhandlungenüber Vergütung, Mandatsumfang und Haftungsfragen fallen unter Geschäfts- und Personalgeheimnisse.
Datenschutz- und arbeitsrechtliche Vorgaben begrenzen dieöffentliche Nennung von Kandidat:innen, solange diese sich in laufenden Positionen befinden.
In regulierten Branchen schreiben Governance-Regeln und Corporate-Governance-Kodizes zwar Transparenz vor– aber meist im Ergebnis, nicht im laufenden Besetzungsprozess.
Aus dieser Perspektive wirkt die verdeckte Suche wie ein notwendiger Schutzraum: Man will Gremien in Ruhe neu ordnen, ohne medialen Schlagabtausch, ohne laufende Spekulationen an den Kapitalmärkten.
Doch genau hier beginnt der kritische Teil der Debatte. Denn Diskretion kann sachlich begründet sein – oder bequeme Ausrede dafür, am vertrauten Kreis festzuhalten.
Wenn der geschlossene Zirkel zur Komfortzone wird
Kritiker sprechen offen von„Vetternwirtschaft“. Gemeint ist nicht zwangsläufig Korruption – sondern ein System, das sich selbst bestätigt. Es setzt auf bekannte Gesichter, bewährte Biografien und vertraute Denkweisen.
Die Folge:
Mandate werden selten anhand einer transparenten Anforderungsmatrix vergeben, wie sie der Deutsche Corporate Governance Kodex seit Jahren empfiehlt.(dcgk.de)
Zukunftskompetenzen– etwa in Digitalisierung, KI oder Nachhaltigkeit – sind in vielen Gremien noch immer unterrepräsentiert. AdAR-Studien und Fachbeiträge betonen, dass gerade diese Themen in den kommenden Jahren zu zentralen Aufgaben der Aufsichtsräte werden.(adar.info)
Das Risiko eines„Groupthink“ steigt: Wenn ähnliche Profile, Karrieren und Netzwerke im Raum sitzen, werden kritische Fragen zwar gestellt – aber selten aus radikal anderen Perspektiven.
Eine Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums zeigt zudem: Investoren achten zunehmend auf Diversität in Aufsichtsräten und machen eine vielfältige Besetzung zur Bedingung ihrer Engagement-Entscheidungen.(BMBFSFJ) Damit wird aus einer vermeintlich internen Frage der Gremienzusammensetzung ein klarer Governance- und Standortfaktor.
Genau an diesem Punkt entzündet sich die Debatte – denn während die einen auf mehr Transparenz und neue Profile drängen, sehen andere die Gefahr eines Aktionismus ohne inhaltliche Substanz. Board-Berater Friedrich Vogel, seit Jahren eine markante Stimme in der Governance-Landschaft, bringt diese Spannung auf den Punkt: „Der versteckte Markt ist nicht das Problem. Das Problem ist der Mut zur Erneuerung. Solange Unternehmen immer wieder die gleichen Personen nominieren, bleibt alles beim Alten – unabhängig davon, welche Kompetenzanforderungen auf den Folien stehen.“
Sein Einwand wirkt wie ein Kontrastmittel: Er legt offen, wo Veränderungsbereitschaft tatsächlich vorhanden ist – und wo Prozesse lediglich äußerlich modernisiert werden, während die Entscheidungslogik unverändert bleibt. Für Vogel ist deshalb nicht das Ende der Diskretion entscheidend, sondern ein professionellerer Umgang mit ihr.
Der Engpass liegt selten im Talent– sondern in der Sichtbarkeit
Interessant ist, dass aktuelle Governance-Analysen ein ambivalentes Bild zeichnen. Verschiedene Marktstudien zeigen: Unter den neu berufenen Aufsichtsratsmitgliedern großer börsennotierter Unternehmen ist ein erheblicher Anteil sogenannte „First Time Non-Executive Directors“, also Personen ohne vorherige Mandatserfahrung.
Auf den ersten Blick wirkt das wie eineÖffnung des Systems. Doch bei genauerer Betrachtung bleibt die Struktur fast unverändert: Der internationale Anteil in den Gremien stagniert oder sinkt, und viele Zugänge entstehen weiterhin über persönliche Kontakte und bestehende Netzwerke.
Das Kernproblem bleibt damit bestehen:
Sichtbar sind jene Persönlichkeiten, die bereits im Mandatskarussell sitzen oder in den relevanten Business-Zirkeln unterwegs sind.
Unsichtbar bleiben Führungskräfte mit starken Profilen aus Mittelstand, Familienunternehmen, Digitalwirtschaft, Wissenschaft oder Non-Profit-Sektor, die nicht in diesen Netzwerken vorkommen – obwohl sie dringend benötigte Perspektiven einbringen könnten.
Der„versteckte Markt“ ist also nicht leer. Er ist übervoll – nur eben mit unterschiedlichen Sichtbarkeitsgraden.
Transparenz: Wunderwaffe oder brandgefährliche Idee?
Die Forderung nach einem„offenen Markt“ klingt zunächst simpel: Mehr Ausschreibungen, mehr publik gemachte Profile, mehr Nachvollziehbarkeit bei der Auswahl. Governance-Kodizes und Public-Corporate-Governance-Regelwerke des Bundes propagieren Transparenz als Grundprinzip guter Unternehmensführung. (DigitalService)
Doch was würde passieren, wenn Aufsichtsratsmandate tatsächlich ausgeschrieben würden wie leitende Angestelltenpositionen?
Pro-Argument: Ein transparenter Auswahlprozess würde deutlich machen, welche Kompetenzen gesucht sind. Talente außerhalb des bisherigen Kreises könnten sich bewerben, Investoren die Qualität des Auswahlverfahrens besser beurteilen.
Contra-Argument: Kritiker warnen vor symbolischer Offenheit:Öffentliche Ausschreibungen könnten am Ende nur Feigenblatt sein, während die eigentliche Entscheidung weiterhin im vertraulichen Ausschuss fällt. Zudem drohe eine mediale Überinszenierung von Personalfragen bis hin zu Kampagnen gegen einzelne Kandidat:innen.
Realistisch wird die Lösung irgendwo dazwischen liegen: Mehr Transparenz bei Kriterien und Prozessen – ohne die notwendige Vertraulichkeit im Einzelfall preiszugeben.
Vom Hinterzimmer zur kuratierten Plattform
Genau an dieser Schnittstelle setzen spezialisierte Board-Berater an. Sie bewegen sich bewusst in der Grauzone zwischen offener Ausschreibung und rein informeller Empfehlung– und versuchen, den Kandidatenpool strukturiert zu vergrößern, ohne die Vertraulichkeit aufzugeben.
Ein Beispiel dafür ist die Arbeit des Beraters Friedrich Vogel, Gründer von Board Consulting. Er argumentiert, dass der Kreis potenzieller Kandidat:innen systematisch erweitert werden müsse, statt immer wieder auf dieselben Namen zurückzugreifen. Ziel sei es, ein belastbares Netzwerk aufzubauen, in demUnternehmen – auch vertraulich – nach passenden Persönlichkeiten suchen können, während Kandidat:innen gleichzeitig ihre Sichtbarkeit für künftige Mandate erhöhen.
Mit dem von ihm initiierten„Board Summit“ in München soll genau dieser doppelte Effekt entstehen:
Auf der einen Seite treffen Aufsichtsratsvorsitzende, Beiräte, Investoren und Vertreter von Private-Equity-Häusern zusammen, die über zukünftige Besetzungen nachdenken.
Auf der anderen Seite präsentieren sich erfahrene Führungskräfte, die sich für ein erstes oder weiteres Mandat qualifizieren wollen – mit Profilen, die über die klassischen Lebensläufe hinausreichen, etwa mit Digital-, KI- oder Transformationskompetenz.
Formal bleibt der Markt„verdeckt“ – die eigentlichen Mandatsentscheidungen werden weiterhin im vertraulichen Rahmen getroffen. Inhaltlich aber verschiebt sich etwas Wesentliches: Der Kreis der Kandidat:innen wächst, wird diverser und weniger zufällig.
Wer zieht wirklich die Fäden? Investor, Politik oder der Ego-Club?
Die spannende Frage ist, wer den Wechsel von der geschlossenen Runde zum kuratierten Markt tatsächlich vorantreibt.
Investoren Pensionsfonds, Asset Manager und Family Offices haben ein vitales Interesse an leistungsfähigen Aufsichtsräten. Sie können Diversity- und Kompetenzanforderungen formulieren, Transparenz über Auswahlprozesse einfordern und Formate unterstützen, die den Kandidatenpool sichtbar machen.(BMBFSFJ)
Unternehmen und Gremien selbst Sie können ihre Governance-Regeln schärfen, eine Qualifikationsmatrix veröffentlichen und die Rolle von Nominierungsausschüssen neu definieren: weg vom bloßen „Durchwinken“ bekannter Namen – hin zu einem strukturierten, dokumentierten Auswahlprozess mit klaren Kriterien.(adar.info)
Politik und Regulatorik Gesetzgeber und Kodex-Kommissionen können Rahmenbedingungen setzen, ohne in die konkrete Besetzung einzugreifen. Denkbar wären strengere Berichtspflichten darüber, wie Kandidat:innen gefunden wurden, welche Kompetenzprofile abgedeckt sind und in welchem Umfang externe Beratung genutzt wurde.
Kandidatinnen und Kandidaten Und schließlich jene, über deren Köpfe oft gesprochen wird: Die potenziellen neuen Gesichter in den Gremien. Viele von ihnen sind hochqualifiziert, aber unsicher, ob sie „gemeint“ sind. Formate wie Board-Readiness-Programme und Summits senken die Eintrittshürden – vorausgesetzt, manist bereit, die eigene Komfortzone zu verlassen und sich sichtbar zu machen.
Der versteckte Markt als Governance-Lackmustest
Am Ende geht es in dieser Debatte um mehr als nur um einzelne Mandate. Der„versteckte Markt“ ist ein Lackmustest dafür, wie ernst es Unternehmen, Investoren und Politik mit moderner Corporate Governance wirklich meinen.
Wer Transparenz nur in Geschäftsberichten predigt, bei der Besetzung der Kontrollgremien aber auf das Prinzip „man kennt sich“ setzt, verschenkt Chancen – strategisch, reputativ und regulatorisch. Gleichzeitig wäre ein naiver Ruf nach totaler Öffentlichkeit ebenso kurzsichtig. Vertraulichkeit bleibt einlegitimer Schutzraum für sensible Personalentscheidungen.
Vielleicht liegt die eigentliche Herausforderung darin, diesen Schutzraum nicht länger als geschlossene Gesellschaft zu organisieren. Sondern als kuratierte Plattform, auf der Unternehmen und Kandidat:innen einander auf Augenhöhe begegnen – professionell begleitet, kompetenzbasiert, langfristig gedacht.
Ob Formate wie der Board Summit, spezialisierte Board-Consulting-Angebote und strengere Governance-Regeln den„versteckten Markt“ tatsächlich öffnen oder nur neu sortieren, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Klar ist bereits jetzt:
Wer künftig Aufsicht führen will, kann sich weder auf alte Netzwerke noch auf altes Wissen verlassen.
Und werüber Milliardeninvestitionen, Transformation und gesellschaftliche Verantwortung wacht, sollte seine Gremien nicht dem Zufall vertrauter Telefonnummern überlassen.
Quellen
Arbeitskreis deutscher Aufsichtsrat e.V. (AdAR). 2025. Aufsichtsratsstudie 2025– Strategiefähigkeit im Aufsichtsrat.https://www.adar.info/fileadmin/public/user_upload/2025_AR_Studie_2025.pdf
OECD (2025). OECD Corporate Governance Factbook 2025.https://www.oecd.org/en/publications/oecd-corporate-governance-factbook-2025_f4f43735-en/full-report/the-board-of-directors_56efe758.html
Investors for Diversity, Data Report 2021— Analyse der Diversitätsanforderungen institutioneller Investoren an Aufsichtsräte.)https://www.investorsfordiversity.org/data-report
Friedrich Vogel, Gründer der SELECTEAM Holding im Bereich Executive Search, Gründer der Board Consulting AG und Initiator und Schirmherr des Board Summit; seit über 40 Jahren im Markt für Aufsichtsrats- und Top-Management-Besetzungen tätig.
Governance Kodex (DCGK)– offizielle Standards für AR-Besetzung Deutscher Corporate Governance Kodex 2024/2025.https://www.dcgk.de/de/kodex
Categories: Allgemein
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