Fahrerflucht kann im Extremfall sogar als versuchtes Tötungsdelikt gewertet werden

Oliver Schüler: Es ging um einen 30-jährigen Autofahrer, der durch aggressives Drängeln, Ausbremsen und Schneiden einen schweren Unfall verursachte. Das gegnerische Fahrzeug flog über die Leitplanke, überschlug sich mehrfach, der Beifahrer wurde herausgeschleudert und starb an schweren Kopfverletzungen.
Das Landgericht Osnabrück verurteilte den Mann zunächst wegen fahrlässiger Tötung und unerlaubten Entfernens vom Unfallort, also Fahrerflucht, zu drei Jahren und zehn Monaten Haft. Der BGH bestätigte, dass beim Schneidemanöver kein Tötungsvorsatz vorlag. Aber die anschließende Fahrerflucht müsse noch einmal gesondert geprüft werden – hier könne ein versuchtes Tötungsdelikt im Raum stehen.
Frage: Warum hat der BGH beim Fahrmanöver keinen Tötungsvorsatz angenommen?
Oliver Schüler: Vorsatz bedeutet, dass der Täter den Erfolg – in diesem Fall den Tod des Unfallopfers – zumindest billigend in Kauf nimmt. Das Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte das andere Fahrzeug „maßregeln“ wollte, nicht aber eine Kollision und schon gar nicht einen tödlichen Ausgang.
Hinzu kommt, dass er selbst erheblich gefährdet war: Bei einem Frontalcrash hätte er auch ums Leben kommen können. Gerade diese Eigengefährdung spricht in der Regel gegen einen Tötungsvorsatz. Deshalb hat der BGH den Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung bestätigt.
Frage: Und warum ist die Fahrerflucht eine neue rechtliche Bewertungsebene?
Oliver Schüler: Weil mit dem Unfall ein neuer Abschnitt begann. Der Fahrer hat gesehen, dass es zu einer schweren Kollision kam. Ab diesem Moment stellt sich die Frage: Welche Vorstellungen hatte er über die Folgen?
Wenn er ernsthaft in Betracht gezogen hat, dass Insassen schwer verletzt oder gar tödlich verletzt wurden, und er trotzdem vom Unfallort flüchtete, könnte das juristisch als Tötungsvorsatz durch Unterlassen gewertet werden. Denn wer Hilfe verweigert und den Unfallort verlässt, nimmt den Tod von Unfallopfern möglicherweise billigend in Kauf.
Frage: Bedeutet das, dass Fahrerflucht unter Umständen genauso schwer wie ein Tötungsdelikt bestraft werden kann?
Oliver Schüler: Ja, zumindest theoretisch. Normalerweise ist Fahrerflucht nach § 142 StGB ein Vergehen, das mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren geahndet wird.
Wenn aber besondere Umstände hinzukommen – wie in diesem Fall eine tödliche Kollision – kann das Verhalten auch unter § 212 StGB (Totschlag) oder zumindest als versuchtes Tötungsdelikt eingestuft werden. Dann reden wir von Freiheitsstrafen, die deutlich höher liegen.
Der BGH hat klargemacht: Nur weil beim Fahrmanöver kein Tötungsvorsatz vorlag, heißt das nicht automatisch, dass bei der Flucht auch kein Vorsatz bestand. Das sind zwei verschiedene Situationen.
Frage: Welche Rolle spielen dabei die inneren Vorstellungen des Täters?
Oliver Schüler: Eine sehr große. Strafrechtlich kommt es nicht nur auf das äußere Verhalten an, sondern auf das sogenannte Vorstellungsbild des Täters. Hatte er damit gerechnet, dass Menschen verletzt oder gestorben sein könnten? Hat er bewusst in Kauf genommen, keine Hilfe zu leisten?
Im Osnabrücker Fall sprach zum Beispiel die WhatsApp-Nachricht an seinen Chef („Er ist mir reingefahren, ich hätte tot sein können“) dafür, dass er die Schwere der Situation erkannt hat. Das Gericht muss nun genau prüfen, ob er trotz dieses Wissens den Unfallort verließ – unddamit bewusst Rettungschancen der Opfer zunichtemachte.
Frage: Was bedeutet dieser Fall für andere Fahrerflucht-Fälle?
Oliver Schüler: Er ist ein wichtiges Signal. Fahrerflucht ist nie ein Kavaliersdelikt. Schon bei Blechschäden drohen empfindliche Strafen, Punkte in Flensburg und der Entzug der Fahrerlaubnis.
Wenn aber Menschen verletzt oder gar getötet werden, kann Fahrerflucht in Extremfällen den Tatbestand einer versuchten oder vollendeten Tötung erfüllen. Das ist für viele Verkehrsteilnehmer kaum vorstellbar, zeigt aber die enorme rechtliche Bedeutung dieses Verhaltens.
Frage: Was raten Sie Autofahrern, die in einen Unfall verwickelt sind?
Oliver Schüler: Ganz klar: Immer anhalten, sichern und die Polizei verständigen. Auch wenn man denkt, es sei nur ein Bagatellschaden oder der andere sei „schuld“. Wer weiterfährt, macht sich strafbar.
Zudem sollte man– gerade bei Personenschäden – unbedingt Erste Hilfe leisten und sofort Rettungsmaßnahmen einleiten. Schon wenige Minuten können über Leben und Tod entscheiden.
Und falls man später mit einem Vorwurf der Fahrerflucht konfrontiert wird, sollte man keine Aussagen ohne anwaltliche Beratung machen. Ein Fachanwalt für Verkehrsrecht kann die Situation rechtlich einordnen und die bestmögliche Verteidigung entwickeln.
Fazit von Rechtsanwalt Oliver Schüler:
„Der Fall zeigt, wie schnell aggressives Fahrverhalten eskalieren kann – und wie aus einer vermeintlich ‚kleinen Fahrerflucht‘ plötzlich der Vorwurf eines versuchten Tötungsdelikts werden kann. Mein Rat: Hände weg von riskanten Manövern und im Zweifel immer anhalten.Das schützt Leben – und auch die eigene Freiheit.“
Categories: Allgemein
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